Urteil des BGH zur Frage einer offenkundigen Vorbenutzung

In einem kürzlich veröffentlichten Urteil nimmt der BGH zu der Frage Stellung, ob allein durch die Lieferung und Inbetriebnahme einer Anlage eine Offenkundigkeit begründet ist.

In einem kürzlich veröffentlichten Beschluss hat der BGH entschieden, dass die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme einer Anlage bei einer Käuferin nicht ohne weiteres eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass beliebige Dritte die Anlage untersuchen und dadurch Kenntnis von einer Erfindung erhalten.

Sachverhalt
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 1 495 486, das ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Konditionierung von Halbleiterwafern oder Hybriden betrifft. Die Klägerin hat das Streitpatent wegen unzulässiger Erweiterung und fehlender Patentfähigkeit angegriffen und unter anderem geltend gemacht, dass die Gegenstände der unabhängigen Patentansprüche in allen verteidigten Fassungen nicht neu seien, weil sie die Beklagte vor dem Prioritätstag durch Lieferung mindestens einer erfindungsgemäßen Anlage an eine Abnehmerin offenkundig vorbenutzt habe. Mit der Abnehmerin sei weder ausdrücklich noch konkludent eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen worden. Die Abnehmerin habe auch kein wirtschaftliches Interesse an einer Geheimhaltung gehabt. Der Offenkundigkeit stehe nicht entgegen, dass nähere Untersuchungen eine teilweise Demontage und insbesondere ein Entfernen des thermischen Isolationsschaumes am Kühlgerät erfordert hätten.

Die Beklagte hat die Lieferung einer Anlage an die Abnehmerin vor dem Prioritätstag des Streitpatents, die alle Merkmale der unabhängigen Patentansprüche in allen verteidigten Fassungen aufwies, nicht bestritten. Das BPatG hat daraufhin das Patent für nichtig erklärt.

Entscheidung
Der BGH hebt die Entscheidung des BPatG auf. Zwar sei in der Regel davon auszugehen, dass mit der Lieferung einer Anlage die Kenntnis von der Erfindung der Öffentlichkeit preisgegeben und jedenfalls die nicht fern liegende Möglichkeit geschaffen worden sei, dass beliebige Dritte von der Erfindung Kenntnis nehmen konnten. Eine nur theoretische oder entfernt liegende Möglichkeit der Kenntnisnahme reiche indes nicht aus. Nach Feststellung des BPatG hätten Mitarbeiter der Abnehmerin vor dem Prioritätstag beim normalen Betrieb der Anlage keine Kenntnisse über den inneren Aufbau des Kühl- und Temperierungssystem erlangen können. Die Mitarbeiter der Abnehmerin hätten nicht gewusst, wie die Anlage aufgebaut ist und funktioniert. Bis auf Änderungen an der Mess-Software hätten sie keine Veränderungen an der Anlage vornehmen dürfen. Anhaltspunkte dafür, dass die Abnehmerin genauere Kenntnisse über die Funktion des Kühlsystems erlangen wollte, seien nicht ersichtlich.

 

Dass sich die Abnehmerin darauf eingelassen hätte, dass ein Wettbewerber der Beklagten die Anlage untersucht, weil er die Anlage vielleicht nachbauen wollte und der Abnehmerin einen günstigeren Preis hätte anbieten können, erscheine deshalb unwahrscheinlich, weil hierzu Eingriffe in die Substanz der Anlage notwendig gewesen wären und sie damit sicher finanzielle Nachteile hätte in Kauf nehmen müssen. Auch liege es nicht nahe, dass die Abnehmerin die Anlage nach dem Ende der Nutzungsdauer an ein drittes Unternehmen veräußert; im Zeitraum zwischen der Lieferung der Anlage und dem Prioritätstag des Streitpatents sei ein solcher Vorgang auch nicht zu erwarten gewesen. Selbst wenn einschlägige Informationen aus einer Betriebsanleitung oder dergleichen ersichtlich gewesen wären, könnte dies allenfalls dann zur Offenkundigkeit geführt haben, wenn zu erwarten gewesen wäre, dass die Abnehmerin diese Erkenntnisse mit beliebigen Dritten teilt oder wenn sie diese Information tatsächlich weitergegeben hätte.

Der Gegenstand des Streitpatents wäre allerdings offenkundig geworden, wenn der erfindungsgemäße Aufbau aus dem Angebot selbst ersichtlich gewesen wäre.

Praxishinweis
Es ist ständige Rechtsprechung des BGH, dass die Veräußerung eines Gegenstandes ohne Geheimhaltungspflicht, der die Lehre des Streitpatents vorwegnimmt, für sich genommen noch nicht zur Offenkundigkeit führt, sondern darüber hinaus nicht nur die theoretische Möglichkeit eröffnet sein muss, dass beliebige Dritte ausreichend Kenntnis von der Erfindung erlangen (BGH, Urteil vom 08.11.2016, Az. X ZR 116/14).

In der vorliegenden Entscheidung stellt der BGH aber klar heraus, dass nach der Lebenserfahrung anzunehmen sein muss, dass der Empfänger einer Anlage auch Kenntnis über deren Aufbau erlangen konnte und es eine hinreichende Veranlassung dafür gibt, dass er die Kenntnis auch erlangen bzw. Dritten die Kenntnis über den Aufbau verschaffen wollte. Für eine entsprechende Motivation muss es Anhaltspunkte geben. Die große Beschwerdekammer des EPA ist in der Entscheidung G1/92 zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Erzeugnis zum Stand der Technik gehört, wenn es selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden könne, unabhängig davon, ob es besondere Gründe dafür gibt, das Erzeugnis zu analysieren. Dies gilt in seiner Allgemeinheit für den BGH nicht. Ein Anlass für eine Analyse muss wahrscheinlich und nach der Lebenserfahrung auch zu erwarten sein.

BGH, Urteil vom 21.04.2020, Az. X ZR 75/18 - Konditionierverfahren