Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters wegen ausschließlich technischer bedingter Merkmale

Zur Bestimmung der technischen Funktion von Erscheinungsmerkmalen eines Gemeinschaftsgeschmacks- musters darf eine Patentanmeldung desselben Inhabers herangezogen werden, wenn diese genau dasselbe Erzeugnis betrifft.

VO (EG) Nr. 6/2002 Art. 8 Abs.1, Art. 25, Abs. 1 lit. b

Zur Bestimmung der technischen Funktion von Erscheinungsmerkmalen eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters darf eine Patentanmeldung desselben Inhabers herangezogen werden, wenn diese genau dasselbe Erzeugnis betrifft. (Leitsatz des Verfassers)

EuG (Zehnte Kammer), Urt. v. 18.11.2020 – T-574/19 (EUIPO) - „Fluid Distribution Equipment“,GRUR-RS 2020, 31169

Sachverhalt
Die Klägerin ist Inhaberin des GGM 1431829-0001, das mit obiger Wiedergabe und mit dem Titel „Fluid Distribution Equipment” eingetragen wurde.
Gestützt auf Art. 25 I lit. a iVm Art. 4 I und 8 I GGV wurde ein Antrag auf Nichtigerklärung gestellt. Das EUIPO ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, dass die technische Funktion des Erzeugnisses darin bestehe, mehrere aufblasbare Ballons gleichzeitig zu füllen. Es umfasse vier Erscheinungsmerkmale: das Gehäuse, die Schläuche, die Ballons und die Verschlüsse. Alle Erscheinungsmerkmale seien ausschließlich durch ihre technische Funktion bedingt. Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster wurde für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Klage der Inhaberin.

Entscheidung
Das EuG bestätigt die Entscheidung des EUIPO. Die Rüge, die Beschwerdekammer habe die Erscheinungsmerkmale des Erzeugnisses nicht geprüft, greife nicht, weil der Begriff „Merkmale“ in Art. 3 lit. a VO (EG) 6/2002 in einem weiten Sinne verwendet werde, der alle möglichen Aspekte der Erscheinungsformen eines Erzeugnisses umfasse. Die Identifizierung dieser Merkmale müsse von Fall zu Fall erfolgen und hänge von der betreffenden Ware ab. Die Ermittlung der Erscheinungsmerkmale könne demnach mittels einer einfachen visuellen Analyse des Musters erfolgen, sie könne sich aber auch auf eine eingehende Prüfung stützen, bei der einschlägige Beurteilungskriterien wie Erhebungen oder Sachverständigengutachten berücksichtigt werden. Die Beschwerdekammer habe auch die technische Funktion der Ware berücksichtigt und ausgeführt, dass mit ihr Kinder durch die Ermöglichung einer Wasserschlacht zu unterhalten seien und die technische Funktion zutreffend definiert. Nur dann, wenn zwischen der technischen Funktion eines Merkmals und der technischen Funktion des Produkts ein Kausalzusammenhang besteht, könne festgestellt werden, dass das Erscheinungsmerkmal „ausschließlich von der technischen Funktion des Produkts diktiert“ wird. Der Umstand, dass ein Erzeugnis mehrere Merkmale aufweist, von denen jedes eine andere Funktion erfüllt, schließe die Anwendung von Art. 8 I GGV nicht aus. Die Bestimmung verlange nicht, dass sich die Erscheinungsmerkmale auf eine einzige technische Wirkung beziehen. Sie könnten mehrere technische Wirkungen hervorbringen, solange sie zur Erreichung der mit dem Erzeugnis beabsichtigten technischen Wirkung beitragen. Die Beschwerdekammer habe für das Verständnis der Funktion des Erzeugnisses auch die EP 3 005 948 A2 der Inhaberin heranziehen dürfen und sie habe ihre Zurückweisung der Beschwerde nicht allein auf die hieraus gewonnenen Erkenntnisse gestützt. Die Zeugenaussage des Entwerfers habe nur eine begrenzte Beweiskraft, da sie eine persönliche und subjektive Meinung sei, und dieser als Präsident und Inhaber der Klägerin auch ein persönliches Interesse habe. Soweit diese Zeugenaussage das einfache, saubere, elegante „Erscheinungsbild“ beschreibe, könne sie nicht überzeugen. Auch bedeute ein kommerzieller Erfolg eines Erzeugnisses nicht, dass Gestaltungen berücksichtigt wurden, die sich nicht allein auf die Notwendigkeit der Erfüllung seiner technischen Funktion beziehen.

Praxishinweis
Dass die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses bereits dann ausschließlich technisch bedingt sind, wenn sie bei objektiver Beurteilung mit dem Ziel gewählt wurden, die technische Funktion des Erzeugnisses zu erfüllen, und andere Erwägungen, insbesondere ein „ästhetischer Überschuss“, bei der Entscheidung für dieses Merkmal keine Rolle gespielt haben, gilt seit der DOCERAM-Entscheidung des EuGH (GRUR 2018, 612 Rn. 26 = GRUR-Prax 2018, 174 [Klawitter]). Die Ansicht des OLG Frankfurt a. M., ein Indiz für eine ausschließlich technische Bedingtheit von Merkmalen liege darin, dass die technische Funktion dieser Merkmale in einer Patentschrift unter Verwendung einer dem Design im Wesentlichen entsprechenden Zeichnung beschrieben wird (GRUR 2019, 67 Rn. 36 – „Penisextensionsvorrichtung“), bestätigt das EuG nun insoweit, als die Bestimmung der technischen Funktion von Erscheinungsmerkmalen zumindest dann zulässig ist, wenn die Patentanmeldung genau dasselbe Erzeugnis betrifft. Klar ist nun auch, dass jedes einzelne Merkmal für sich auf seine technische Bedingtheit betrachtet werden muss und dabei alternative Gestaltungsformen außer Acht bleiben müssen. Wenn die Inhaberin die ästhetische Wirkung der einzelnen Merkmale belegen will, tut sie sicherlich gut daran, einen unabhängigen Sachverständigen und nicht den Entwerfer zu bemühen.

Patentanwalt Dipl.-Ing. Thorsten Rehmann,

LL.M.Gramm, Lins & Partner PartGmbB, Braunschweig